TOTALE 10
Patrick Niemann
À rebours – against the grain – gegen den Strom
Die Malerei Patrick Niemanns zeichnet sich in jeder Hinsicht durch Fülle aus:
reiche Farben, starker Duktus, verschiedenste Materialien, Schriften und
Stile werden im jeweiligen Bildformat vereint. Oberflächlich und von Weitem
betrachtet, verströmen einzelne Arbeiten durch ihre großen, starkfarbigen
Flächen eine geradezu kindliche Aura, die in Pastellfarben gehaltenen Werke
gaukeln Sanftheit vor, nähert sich der Betrachter jedoch dem Bild, wird er
unweigerlich hineingezogen in die verstörende Schönheit eines Alptraums.
Menschen sind deutlich im Fokus des Interesses. Der Mensch wird
vielgestaltig gezeigt in seiner Zerrissenheit, seinen Abgründen,
im Kampf mit seinen animalischen Trieben. Schonungslos und zugleich
poetisch. Bei den Papierarbeiten – die wichtiger Bestandteil des Oeuvres
sind – werden derartige Momente mit einem lockeren, malerischen Strich
festgehalten. Sehr frei und gleichzeitig auf den Punkt. Die Malerei ist eng
mit den Papierarbeiten verbunden und hat doch einen völlig anderen
Effektauf den Betrachter: Starke Momente werden einem gleichsam
ins Gesicht geschrien und man wird so genötigt, sich die ganze Geschichte
darum herum zu denken – oder sollte man besser sagen: sie zu empfinden?
Charakteristisches Stilmittel ist ein ausladender Malduktus, der immer
wieder entschieden, beinahe brutal durch das Setzen deutlicher Konturen
begrenzt wird. Dies darf durchaus gelesen werden als Synonym für das Tier
in jedem von uns, welches nach draußen schreit und nur mit großer
Kraftanstrengung der Ratio gezügelt werden kann. Eine Frage drängt sich
auf angesichts der Arbeiten von Patrick Niemann: Was passiert wohl,
wenn es nicht mehr gelingt, den Deckel draufzuhalten? Das Einlassen auf
die Kunst Niemanns ist ein Tanz auf dem Vulkan zwischen Genuss reiner
Malerei, geprägt von einem außergewöhnlichen Ideenreichtum
und der Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des Menschseins.
Kamen in den früheren Werken Patrick Niemanns des Öfteren
Schriftfragmente vor, welche allgemein akzeptierte Aussagen, wie dass
Zeugnispapiere einen im Leben weiterbringen, das geschriebene Wort
eindeutig, das Alter weise und Mütter heilig sind, unmissverständlich
in Frage stellten, erschließt sich dies in den jüngsten Arbeiten durch
das reine Motiv in Verbindung mit dem Titel. Es wird hier durchaus etwas
vom Gegenüber des Bildes gefordert, doch der Gewinn ist ungleich größer.
Julia Ritterskamp, Kunsthistorikerin und Kuratorin
TOTALE 10